Hannah Arendt, Macht und Gewalt
Hannah Arendt hat sich in Ihrem Essay Macht und Gewalt vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges, der Dekolonialisierung in Afrika und der Studentenunruhen in Europa und Nordamerika in den 1960er Jahren mit dem Verhältnis von Macht und Gewalt in menschlichen Gesellschaften auseinandergesetzt.
Zunächst konstatiert sie, dass in den meisten wissenschaftlichen Abhandlungen und Diskursen Macht und Gewalt gleichgesetzt oder zumindest als sich gegenseitig bedingende Faktoren ein und desselben Phänomens, der Herrschaft, verstanden werden. An die Macht in einer Gesellschaft wird meist der Besitz des Gewaltmonopols oder zumindest der umfangreichste Zugriff auf die Gewaltmittel innerhalb der Gesellschaft gekoppelt, er bildet geradezu die Voraussetzung der Macht (u.a. Weber). Gleichzeitig stellt Arendt fest, dass Macht eine grundlegende Konstante menschlicher Vergemeinschaftung ist. Dort, wo sich Menschen zusammenfanden und –finden, entsteht laut Arendt zwangsläufig Macht.

Im Unterschied zu der von ihr kritisierten Forschung trennt Arendt Macht und Gewalt in ihrer Funktion voneinander. Macht ist dabei ein essentieller Aspekt menschlicher Gesellschaften (Gesellschaften können laut Arendt nicht ohne Macht sein), hingegen steht sie der Gewalt lediglich einen funktionalen Charakter zu. Gewalt ist nötig, um bestimmte Zustände zu erreichen oder zu erhalten, sie kann aber nicht selbst Zweck gesellschaftlicher Handlungen sein. Gewalt dient damit laut Arendt immer einem höheren Ziel (meist paradoxerweise der Erreichung des Friedens).

Arendt stellt fest, dass Macht in Gesellschaften grundsätzlich nicht an Gewalt gebunden ist. Absolute Macht wird ihr zu Folge gerade durch die Abwesenheit von Gewalt demonstriert. Absolute Macht kann auf jeden Einsatz von Gewalt gegen alle Beteiligten verzichten, gerade weil sie aus sich heraus ihre Macht konstituiert. Gewalt kommt immer dann ins Spiel, wenn die Macht abnimmt. Die zum Substitut der Macht, um die Position der Herrschenden in der Gesellschaft zu behaupten. Jeder Gewalteinsatz führt dabei aber unweigerlich zu einem weiteren Verlust an Macht, wie Arendt u.a. am Beispiel des Einmarsches des Warschauer Paktes in die CSSR aufzeigt. Das Problematische, das gerade an diesem Beispiel gezeigt werden kann, ist das Faktum, dass reine Gewalt reiner Macht immer überlegen ist, nach dem Sieg über die Macht aber selbst keine neue Macht etablieren kann. Aus diesen Überlegungen heraus kommt Arendt zu dem Schluss, dass Gewalt generell ein Zeichen schwacher Macht ist. Je größer die Gewalt, desto schwächer die Macht und desto unwahrscheinlicher auch eine Rückkehr an die Macht für denjenigen, der die Gewalt ausübt. (Hier finden sich interessante Parallelen zu den Vorgängen in Libyen und Ägypten im Jahr 2011 – Anm. d. Verf.)

In einem anderen Blickwinkel kann Gewalt allerdings auch ein Mittel der Machtlosen sein, um (schwache) Herrscher zu stürzen. Diese Gewalt bricht sich laut Marx in revolutionären Situationen Bahn, die durch ein immer stärker werdendes Anstauen von Gewaltpotential in der nicht herrschenden Gesellschaftsklasse gekennzeichnet ist. Arendt macht hier auf die Denkfehler der „neuen Linken“ aufmerksam, die sowohl die Kurzfristigkeit der Gewaltphasen in den marxschen Thesen, als auch die Notwendigkeit einer von innen heraus wachsenden Gewaltbereitschaft und der Führerschaft und Organisation der revolutionären Kräfte (meist) durch Angehörige der eigentlich herrschenden Klasse in ihren Überlegungen ausblenden. Gewalt, die von diesen Kräften gern als Allheilmittel verstanden wird, ist eben dieses nicht. Sie muss nach einer erfolgreichen Revolution von Macht abgelöst werden. Dazu besteht die Notwendigkeit, dass sich in der die Revolution tragenden Klasse Gruppen finden, die bereit sind, die Macht zu ergreifen. Hierzu sind neben dem eigentlichen Machtwillen auch Ressourcen zur Machtausübung (materiell und intellektuell) und ein gewisser Grad an innerer Organisation notwendig. Andernfalls entsteht nach der Revolution ein Machtvakuum, dass in unterschiedliche Richtungen entwickeln kann (z. Bsp. Anarchie, Rückkehr der alten herrschenden Gruppe an die Macht, Gewaltherrschaft und Terrorherrschaft [Polizeistaat]). All diese Entwicklungen haben gemeinsam, dass die eigentlich die Revolution tragende Gruppe von der Machtausübung ausgeschlossen bleibt.
(Auf die Spitze getrieben und mit Arendts Thesen vom Ausschluss großer Teile der Gesellschaft von aktiver politischer Partizipation in den westlichen Gesellschaften durchaus konform könnte man die Ergebnisse der Revolution in der ehemaligen DDR oder auch das Herausdrängen der Jugend aus dem politischen Prozess in Ägypten in diesem Jahr unter diese Kategorie fassen.)

In einem weiteren Punkt greift Arendt das Problem von Gewaltanwendung nach Außen für im Inneren als (gewaltfreie) Demokratien organisierte Gemeinschaften auf. Sie zeigt am Beispiel der britischen Kolonialpolitik in Indien und des Erfolgs Ghandis die Problematik auf, die ein Einsatz von Gewaltmitteln auf die inneren Verhältnisse in Großbritannien mit sich gebracht hätte. Laut Arendt wäre die Gefahr groß gewesen, dass die Gewaltanwendungen Rückwirkungen auf die Gesellschaft in Großbritannien selbst gehabt hätten und somit die Macht von Parlament und Regierung zu Gunsten von Gewalt zurückgedrängt worden wäre. (Auch hier lassen sich Parallelen zu den späteren Problemen der britischen Gesellschaft während des Falklandkrieges, der Probleme der USA sowohl im Inneren als auch in Irak und Afghanistan während der beiden Kriege sowie zur prekären Machtposition der britischen Regierung in Nordirland zwischen 1920 und 2000 nicht von der Hand weisen.)

Arendts scharfsinnige Analyse ist in großen Teilen überzeugend formuliert, lässt aber auch einige Problemfelder unbeantwortet. Zum einen zeigt sie zwar auf, dass Gewaltanwendung der Macht in der Gesellschaft immer abträglich ist, sie vermeidet es aber, alternative Konzepte zur gewaltfreien Etablierung und Sicherung von Macht vorzustellen. Als Voraussetzung für absolute Macht geht Arendt lediglich von einer Verfassung aus, deren Gesetze von allen Bürgern akzeptiert und deshalb freiwillig beachtet werden. Diese Vorstellung ist unrealistisch und geht von einer Konformität der Gesellschaft aus, die Macht schon fast wieder unnötig machen würde. Arendt zeigt keine Wege auf, wie die Minderheit, die sich der Akzeptanz einzelner Gesetze verweigert, ohne Gewaltmittel zu deren Einhaltung gebracht werden kann, wobei hier natürlich auch eine genauere Definition des Begriffs Gewaltmittel nötig ist (auch Strafzettel können als solche bezeichnet werden, obwohl aus Arendts Ausführungen hervorgeht, dass sie vor allem von körperlichen Gewaltmitteln und Waffen als Zwangsmittel ausgeht).
Der letzte Kritikpunkt betrifft die Darstellung der Gewalt als funktional. Arendt gelingt es zwar, die Funktionalität der Gewalt gegenüber der Essentialität von Macht zu erklären, sie unterlässt es aber zu erklären, welche Funktion die Gewalt ausübt. Da Gewalt gerade nicht Macht erhält, kann ihre Funktionalität nicht mit der Macht verbunden sein. Sie dient gerade nicht der Macht. Die beiden Punkte, die nach Arendt am ehesten als Ziele der Gewalt und damit als Nutznießer ihrer Funktion in Frage kämen wären Herrschaft und Frieden, aber eine Antwort auf diese interessante Frage bliebt die Verfasserin offen.